Huigs Wegweiser durch die Populär-Galaxie #53: Die Welt in Scheiben

Der Herr Stöckli hat angerufen. Er wandere nach Spanien aus und er habe gehört, dass man CDs und Vinyl mir bringen könne und er hätte eben seine Plattensammlung abzugeben. Oh, gerne! Danke tausend! Herr Stöckli ist Frührentner, deshalb sind seine Platten allesamt schon älteren Datums: an die hundert Alben und etwa zweihundert Singles von Mitte der 1960er bis Ende der 1980er, allgemein in bestem Zustand, fast nur Hits und etwa die Hälfte teutonische Schlager – Heino ohne Brille!
Da stand ich also in meiner Küche und hab mich durch die klingenden Zeugen von Herrn Stöcklis Leben gewühlt. Eine herrliche Arbeit mit therapeutischem Wert, jedenfalls für mich. Denn jede Platte hat ihre eigene Geschichte, und weil ich die aber nicht kenne, konnte ich mir zu jeder Scheibe eine neue Story ausdenken. Wobei alle Geschichten zusammen das Gesamtbild der Sammlung widerspiegeln müssen. Was für Freunde der Herr Stöckli hatte, dass er bevorzugt nach Schottland und Hawaii reiste. Dass er gerne tanzte und nie Liebeskummer hatte und wenn überhaupt allerhöchstens weiche Drogen konsumierte.
Besonders interessant sind die Singles: Ich nahm jede einzeln in die Hand, las den Songtitel, und sofort begann es in meinem Kopf zu singen: «Daddy Cool» (tädä-tä-tä-tädä), «Video Killed The Radio Star» (aaa-haaaaa), «Kung Fu Fighting» (tärärärärä-tä-tä-tä-täää), «Griechischer Wein» (lalala), so ging das stundenlang, in meinem Kopf wirbelte das totale Partyradio. Es war schön, all das Scheiben in den Händen zu halten und die Songs mitzusingen. Das führte mich dann aber irgendwann zur Frage: Gibt es seit Beginn des digitalen Zeitalters mit all seinen Streamingportalen eigentlich Lieder, die genauso funktionieren?
Dass sie Allgemeingut wurden und im besten Sinne des Wortes etwas Bleibendes hinterlassen? Die Antwort ist leider traurig, denn sie lautet: Nein. «Believer», «Tusa», «Savage»… Irgendwer? Eben! Kann kein Schwein mehr mitsingen. Und das sind immerhin Imagine Dragons, Nicki Minaj und Megan Thee Stallion. Das hat mehrere Gründe. Die beiden wichtigsten aber sind: Heutige Songs verlieren sich ebenso schnell in den unendlichen Weiten des form- und körperlosen digitalen Universums, wie sie aufgetaucht sind. Der zweite: Die Bands komponieren heute ganz anders, um in der Flut des digitalen Tsunami überhaupt mehr als fünf Sekunden Aufmerksamkeit zu erheischen. Die Songs sind rigoros auf schnelles Verankommen und massentaugliche Refrains getrimmt, aber genau deshalb bleiben sie am Ende nicht haften. Das ist eine zynische Verkehrung der Absicht jedes Musikers, Songs für die Ewigkeit zu schaffen.
Schön blöd. Ich verstehe jedenfalls die heutigen Teens und Twens, wenn sie in Scharen an Siebzigerjahre- und Bravo-Hits-Partys pilgern und begeistert Flohmärkte und Brockenhäuser nach Vinyl durchsuchen.
Ps: Ich habe nun dank Herrn Stöckli ein neues Lieblingslied. Es stammt von Audrey Landers und heisst «Happy Endings».
Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass Bono Vox verboten werden sollte.
Christian Hug aka Huig
christian@whipit.ch

«I’m runnin' with a burnin' spirit that I can’t control», sagt Si, und er hat ja sowas von recht. Der Bruce weiss die einzig richtige Lösung: «I’m running free.» Und am Ende bleibt, was John Lee schon immer wusste: «It’s all the Blues.» The Numbers of the beast: 1965, 189,6370, 3. christian-hug.ch

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