hate5six: Mittendrin statt nur dabei

Hardcore-Punkbands wie Cell, Snuffed on Sight, Squint, Sinister Feeling oder (bester Bandname aller Zeiten) Sex Prisoner werden es wohl nie für Konzerte in unsere Region schaffen. Und für unsereiner liegt umgekehrt ein Ausflug in den Snakepit oder in die First Unitarian Church of Philadelphia nicht im Budget. Dafür ist das Internet voll von verwackelten, schlechten Konzertaufnahmen.

Umso erfrischender, wohltuend und beindruckender ist deshalb hate5six.com, der Youtube-Kanal für die besten HC-Konzerte, gehostet von Sunny Singh aus New Jersey. Jahrgang 1986, wurde er mit 10 Jahren durch Evil Empire von Rage against the Machine zum Musikfan und entsprechend politisiert. 2000 fing er an, Konzerte zu filmen, 2008 startete er seinen Kanal, nachdem er die für ihre tollen Skateboard-Aufnahmen bekannte Kamera Canon GL-2 entdeckte. Die Konzerte filmte er neben seinem Brotjob, ohne dass eine zeitliche Lücke entstanden ist, was für eine unglaubliche Disziplin spricht.

So einfach sich sein Konzept liest, so unschlagbar ist es in seiner Konsequenz und Systematik: Auf hate5six erscheinen Aufnahmen von Konzerten, die in kleinen, oft hell ausgeleuchteten Hallen oder Bars stattfinden, manchmal sind diese brechend voll, manchmal halb leer. Die Aufnahmen sind alle in 4K-Qualität gehalten, perfekt auf die Lichtverhältnisse abgestimmt und funktionieren so auch auf dem Smartphone. Richtig zur Geltung kommen sie aber über einen grösseren Bildschirm.

Die Kameraeinstellungen sind immer gleich: Eine auf den Drummer, eine (meistens links) an der Bühne, die zwischen Band und Publikum hin- und herschwenkt. Eine Spezialität sind die Drum-Cams: Sie zeigen nur die Perspektive des Drummers. Es ist faszinierend, einem Hardcore-Drummer bei seiner Arbeit zuzusehen, wie er im ganzen Chaos um sich herum nie den Takt verliert.

Die Bands bewegen sich zwischen Hardcore-Punk, Black Metal und Crossover. Die Qualität der Bands ist – ja – im Vergleich zu den Schweizer Verhältnissen durchgehend brillant. Selbst Bands vor 15 Zuschauern erzeugen einen Druck, von dem manche hier «etablierte» Band nur träumen kann.

Wer sich die Zeit nimmt, entdeckt auch Aufnahmen etablierter Bands wie Madball, Turnstile (ganz früh) oder sogar einen Stadionauftritt von Lamb of God.

Die suggestive Dynamik der Aufnahmen entsteht durch das beinahe statische Konzept (wenig bis keine Schnitte, oft nur ein einziger Blickwinkel), kombiniert mit Sunnys technischem Wissen und seinem Auge für den richtigen Fokus im richtigen Moment. Sunny Singh nimmt sich die Zeit, sich mit der Aufnahmetechnik auseinanderzusetzten. Welche Kamera ist am besten? Welcher Blickwinkel?

Dabei geht oft unter, was für eine Band – und es sind wirklich sehr viele Bands auf seinem Kanal – da eigentlich spielt. Denn das Augenmerk richtet sich auch immer wieder auf einen Moshpit, auf Menschen, bei denen nicht klar ist, ob sie sich prügeln oder tanzen, ob sie grad die Halle auseinandernehmen oder einfach eine gute Zeit haben. Besucher, die über die Köpfe der anderen fliegen.

Es gibt Aufnahmen mit lediglich ein, zwei Personen im Pit, die sich durch eine unsichtbare Masse pflügen, als ob es irgendein modernes Ausdruckstheater wäre. Hier erreicht Sunny Kunstlevel. Zu vergleichen vielleicht mit den Schnappschüssen aus der kalifornischen 70er-Jahre-Skater-Szene, Fotos der frühen Hardcore-Shows mit Black Flag oder Minor Threat oder denen der Grunge-Ära von Charles Peterson. Ikonische Bilder, die mehr als den konkreten Inhalt vermitteln, nämlich den ganzen – sorry, schlimmes Wort – Vibe. Um noch eins draufzusetzen: Die Mitschnitte von hate5six ermöglichen allen vor dem Bildschirm eine beinahe spirituelle Teilnahme an der Energie, die zwischen Band und Publikum hin- und herschwirrt.

Was hate5six so attraktiv und sympathisch macht, ist die Leidenschaft, die dahintersteckt. So, wie Alan Lomax beschlossen hat, den Blues und Folksongs aus den Appalachen einzufangen, so dokumentiert auch Sunny Singh eine kreative und lebendige Untergrundszene. So ist ein Onlinearchiv entstanden, das einen tiefen und faszinierenden Einblick in die Szene und die Szenerien erlaubt. Das alles mit einer beeindruckenden Systematik und Gründlichkeit. Man beachte Sunnys detaillierte Auflistungen bei den Videos: Alle Shows der entsprechenden Bands werden aufgelistet. Teilweise wird sogar auf ähnliche Bands hingewiesen.

Mittlerweile haben sich auch der «Rolling Stone» und der «New Yorker» Sunny gewidmet, Rage against the Machine haben ihn ihre Konzerte im Madison Square Garden filmen lassen. In die «etablierte Internetkultur» hat es hate5six auch schon geschafft, mit dem Harm’s-Way-Sänger James Pligge als Running Man und dem Meme When drinking in the Pit goes wrong.

In den Live-Aufnahmen finden sich auch einige wenige dumme und hässliche rassistische Attacken, die sich Sunny wegen seiner indischen Herkunft anhören musste. Dass sich Sunny von diesen Vollidioten nicht einschüchtern lässt, verleiht seinem Archiv noch mehr Kraft.

Leidenschaft, systematisches Vorgehen und Offenheit machen diesen Kanal zu einem Lichtblick im schlechten Internet der schiefen Konzertaufnahmen: Wer sich die Zeit nimmt und sich auf das Wurmloch der Aufnahmen (mittlerweile über 5000) einlässt, entdeckt eine neue, andere Welt. Vielleicht nicht mittendrin, aber voll dabei. Zum Beispiel hier:

Madball:

Turnstile:

Running-Man-Meme:

Lamb of God:

When drinking in the Pit goes wrong:

Roland Frey
roland@whipit.ch

Roland Glenn Frey – Von A wie Fusion bis Z wie Doom. Hasst Heinz Rudolf Kunze, liebt Hunde.

No Comments

Post A Comment